In Aussicht gestelltes Geld wirkt positiv verhaltensstimulierend − und das nicht nur auf Vertriebsmitarbeiter, die schon gut verdient haben. Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe dafür?
John Pfeiffer: Ursachen sind nicht die absoluten Gewinnchancen, sondern der Vergleich mit anderen oder mit anderen Worten der Effekt, dass das Verfügen über ein relatives Mehr an Geld die betreffenden Personen aufwertet.
David Voggeser: Wenn dann noch eine hohe extrinsische Motivation vorhanden ist, also eine Anerkennung der Besserstellung durch Dritte gesucht wird, bekommt geldlicher Anreiz eine hohe verhaltensbeeinflussende Wirkung.
Gerade im unmittelbaren externen Vertrieb werden häufig extrovertierte und extrinsisch motivierte Mitarbeiter eingesetzt. Können Vergütungssysteme deren Motivationsstruktur nutzen und eine Balance im Sinne des Individuums wie des Unternehmens sicherstellen?
John Pfeiffer: Fein abgestimmte Systeme der Vertriebsvergütung schaffen dies, insbesondere auch unter Berücksichtigung der Frage, ob Provisionen unbegrenzt oder mit einer Obergrenze versehen sein sollten.
Sollten sie?
John Pfeiffer: Wir plädieren klar für eine Deckelung, auch wenn die Argumente für unbegrenzte Vertriebsprovisionen schnell bei der Hand sind.
Was sind denn aus Ihrer Sicht die zentralen fürsprechenden Argumente?
David Voggeser: Zunächst einmal trägt jeder profitable Umsatz einen Anteil Vertriebsvergütung in sich. Auch werden Zusatzanstrengungen im Verkauf vorgenommen, wenn eine finanzielle Anerkennung stattfindet. Bei Provisionsobergrenzen würden weitere Verkäufe auf die nächste Abrechnungsperiode verlegt.
John Pfeiffer: Ein weiterer Grund ist die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Vertriebsmitarbeiter. Die Ausschöpfung von individuellem Potenzial wird über unbegrenzte Verdienstmöglichkeiten sicherlich honoriert. Selbständige Handelsvertreter sind hier das Paradebeispiel.
Nun möchte nicht jedes Unternehmen seinen Vertrieb teilweise oder ergänzend auf frei und selbstständig agierende Handelsvertreter umstellen.
John Pfeiffer: Zu Recht, ein solches Modell sollte jedoch immer geprüft werden. Selbstständige Handelsvertreter bauen auf eigenes Risiko Kundenbeziehungen auf und erhalten als Ausgleich für ihr Risiko die alleinige Umsatz- und Budget-Verantwortung sowie über die Beschäftigung von weiterem Personal ein Äquivalent in einer unbegrenzten Verdienstmöglichkeit. Nicht jedes Unternehmen will so weit gehen.
David Voggeser: Dies gilt ebenso für eine Abwandlung dieses Modells auf Angestellte. Wenn kein oder ein sehr geringes Grundgehalt gezahlt wird, wird sicher eher über unbegrenzte Provisionen nachgedacht. Doch in beiden Fällen gilt: Wer Qualität der Beratung benötigt, wem die Pflege von Kundenbeziehungen wichtig ist, wer Nachkäufe und/oder Service-Leistungen anbieten kann, sollte bei der Provisionsgestaltung Vorsicht walten lassen.
Welche Lücken sehen Sie in der Argumentation der Befürworter von unlimitierten Vertriebsprovisionen?
David Voggeser: In jedem Fall muss neben dem Gesamtumsatz auch der Verkaufsaufwand betrachtet werden. Einen großen Abschluss gleichgewichtet wie viele kleine zu honorieren, erscheint nur bei identisch hohem zeitlichen und materiellen Aufwand als sinnvoll. Auch die Qualität des Umsatzes im Sinne von Marktausschöpfung sollte in einem Vergütungssystem integriert sein.
John Pfeiffer: Hinzu kommt, dass jeder Mensch nur eine begrenzte Arbeitszeit zur Verfügung hat, die er dauerhaft ohne Raubbau an der Gesundheit einbringen kann. Verkaufsproduktivität wird in der Regel durch effiziente Verkaufsplanung und -durchführung erzielt. Mit zunehmender Ermüdung sinkt die Produktivität. Auch ein Unternehmen muss seine Angestellten vor Überlastung schützen, für eine systematische und kundenorientierte Vertriebsphilosophie sorgen, und die Führung darauf einstellen.
Wie steht es um das Auffangen unvorhergesehener, externer Markteinflüsse?
David Voggeser: Dies ist ein zentraler Punkt in der Argumentation gegen unlimitierte Provisionen. Treten solche nicht vorhersehbaren Ereignisse ein, werden Vergütungen in die eine wie die andere Richtung extrem beeinflusst, ohne dass diese Entwicklung mit der Leistung eines Vertriebsmitarbeiters korreliert. Nehmen Sie als Beispiel die Abwrackprämie für Alt-PKWs in Deutschland aus dem Jahr 2009. Diese hat die Nachfrage nach Neuwagen deutlich nach oben verzerrt.
Was ist für Sie als Experten aus der Praxis Maßstab für die Höhe oder den Deckel von Provisionen?
John Pfeiffer: Eine faire Gesamtvergütung sollte sich an der Leistung leicht unter dem Durchschnitt der gesamten Vertriebsmannschaft orientieren, so hat die Mehrheit das Erfolgserlebnis, über der Norm zu liegen. Ein absolutes Vergütungslimit sollte beim Doppelten der variablen Zielvergütung liegen. Denn es handelt sich bei Vertriebsmitarbeitern um Angestellte, nicht um die risiko-tragenden Unternehmer.
Existiert denn für Ihre praktischen Erfahrungen ein wissenschaftliches Fundament?
David Voggeser: Auch die Wissenschaft kommt zu dem Ergebnis, dass variable Incentivierung im Vertrieb nach oben begrenzt werden sollte. Die empfohlene Deckelung der Vergütung wird damit begründet, dass eine unbegrenzte Vergütung im Vertriebsteam als unfair angesehen wird.
John Pfeiffer: Sofern ein Vertriebsmitarbeiter zum Beispiel ein Gebiet betreut, welches besonders ergiebig ist, kann dies Kollegen demotivieren. Dies mag begründet sein oder nicht. Festzuhalten ist aber, dass die Motivation und die Leistung des gesamten Vertriebsteams erhöht wird, wenn vermeintlich ungerechtfertigt hohe Vergütungen für Einzelne ausgeschlossen werden – etwa durch Vergütungsobergrenzen. Den einzelnen Mitarbeiter kann das schon treffen. Wem Gesamtvertriebserfolg wichtig ist, der setzt auf das Team.
David Voggeser: Eine weitere Erkenntnis aus der Wissenschaft ist, dass die individuelle Leistung eines Vertriebsmitarbeiters effektiver ist, wenn sie als Einzelpersonen und nicht als Team incentiviert wird. Egal ob Individual- oder Team-Incentivierung: Die Free Rider-Problematik wird in beiden Fällen merklich verringert.
Bitte erklären Sie uns die Freeride-Problematik?
David Voggeser: Darunter wird verstanden, dass einzelne Personen an den Leistungen anderer partizipieren, ohne dabei selbst besondere Anstrengungen auf sich nehmen zu müssen bzw. zu wollen. Bei Incentivierung von Einzelpersonen liegt das Vermeiden von Free-Rider-Verhalten bereits in der Natur der Sache; bei Team-Incentivierung nimmt der Gruppendruck auf die einzelnen Kollegen mit opportunistischem Verhalten so stark zu, dass diese ihr Verhalten sukzessive verändern und zum Kollektiverfolg beitragen.
Wo sollten Unternehmen in ihren Vertriebsorganisationen den Schwerpunkt setzen: auf Team- oder Individual-Boni?
David Voggeser: Hier gibt es natürlich branchen- und geschäftsmodellspezifische Unterschiede. Aus Sicht von hkp/// erscheinen Team-Boni insbesondere im Vertrieb komplexer Produkte und Dienstleistungen sinnvoller als reine umsatzbezogene Einzelwettbewerbe. Damit werden Leistung und der Erfolg eines Vertriebs-Teams als Ganzes belohnt, und zwar dauerhaft.
John Pfeiffer: Auch können so besser unterstützende Funktionen in die Incentivierung einbezogen werden. Konflikte und Neid werden vermindert, die Gesamtleistung wird im besten Fall positiv beeinflusst. Grundsätzlich sollten Frustrationen vermieden werden.
Viele Vertriebsmitarbeiter sind auf eine schnelle Honorierung ihrer Erfolge bedacht. Wie kann da gegengesteuert werden?
David Voggeser: Gute Erfahrungen machen jene Unternehmen, die Nachhaltigkeit im Verkaufserfolg honorieren - also nicht einen unmittelbar umsatzbezogenen Anteil, sondern eine mehrperiodische Betrachtung anlegen. Diese Unternehmen honorieren die effizienteren Verkaufsanstrengungen bei Wieder- bzw. Zusatzverkäufen oder vergüten Umsatzsteigerungen, die sich über einen längeren Zeitraum ergeben.
John Pfeiffer: Dass hier keine einheitliche Linie zielführend sein kann, liegt bei den unterschiedlichen Ausgangssituationen auf der Hand. Ob ein Markt erst erschlossen, aggressiv Marktanteil gewonnen oder vor allem auf Marge geachtet werden soll, wird sich in einem guten Vergütungssystem niederschlagen.
Keine unlimitierten Provisionen, ein stärkerer Teamansatz, mehr Nachhaltigkeit im Sinn der Herstellung von dauerhaft profitablen Kundenbeziehung – was sind aus Ihrer Sicht weitere entscheidende Bestandteile moderner Vertriebsvergütung?
John Pfeiffer: Zu beachten ist die begrenzte Wirksamkeit von Vergütung: Interaktion zwischen den Beteiligten, ob intern oder mit Kunden, ist für soziale Wesen wichtiger. Vergütung hilft Unzufriedenheit zu vermeiden. Freude an der Arbeit, Freude am Erfolg mit anderen teilen kann nur guter Führungsstil und wettbewerbsfreies Teamhandeln gewährleisten. Viele Vergütungssysteme im Vertrieb sind noch auf Konkurrenz zwischen Vertriebsmitarbeitern ausgelegt. Es ist Zeit, dies zugunsten einer dauerhaft für alle Beteiligten besseren Lösung zu ändern.
Herr Voggeser, John Pfeiffer, herzlichen Dank für das Gespräch!