The Great Resignation oder auch The Big Quit – hinter diesen Schlagworten verbirgt sich eine der größten Kündigungswellen, die die USA je erlebt hat. Was genau es damit auf sich hat, welche Bezüge sich zum deutschsprachigen Markt herstellen lassen und mit welchen Lösungen Unternehmen reagieren und vorbeugen können, erläutern die hkp/// group Experten Frank Gierschmann und David Voggeser.
Herr Gierschmann, Herr Voggeser, warum wird die Bindung erfolgskritischer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter derzeit so heiß diskutiert?
Frank Gierschmann: Unternehmen weltweit sehen sich aktuell einer Welle freiwilliger Kündigungen in einem nicht zu erwartendem Ausmaß ausgesetzt, wobei die Dimension dieser Welle in den USA heraussticht. Hier haben laut U.S. Bureau of Labor Statistics allein im letzten November 4,5 Millionen Menschen ihre Stellen gekündigt – viele von ihnen, ohne eine neue Anstellung in Aussicht zu haben.
David Voggeser: Besonders betroffen sind dabei Jobs in Bereichen, in denen Corona zu starken Beanspruchungen geführt hat, etwa im Gesundheitswesen oder im Freizeit- und Gastgewerbe. Schaut man auf die Hierarchieebenen und Alterskohorten, so ist der dramatischste Anstieg von Kündigungen vor allem auf mittleren Karrierestufen und bei Personen im Alter von 30 bis 45 Jahren zu verzeichnen. Es verlassen also Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im produktivsten Alter und mit potenziell sehr guten Aufstiegschancen ihre Arbeitgeber.
Aber was sind die Gründe für die freiwilligen Kündigungen in diesen Dimensionen?
Frank Gierschmann: Die Ursachen sind vielfältig. Primär lassen sie sich in zwei Kategorien unterteilen: erstens die Unzufriedenheit mit den Rahmenbedingungen der Arbeit und zweitens mit den Arbeitsinhalten. Zu den Rahmenbedingungen zählen etwa flexible Arbeitszeiten oder -orte. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wollen die im Zuge der Corona-Pandemie diesbezüglich eröffneten Privilegien nicht mehr missen. Zu den Arbeitsinhalten zählt primär die Sinnhaftigkeit der eigenen Arbeit, aber auch Aspekte wie fehlende Wertschätzung durch Vorgesetzte oder das Agieren von Arbeitgebern in puncto Umwelt-, Sozial- und Governance-Themen, kurz ESG.
Ist denn die soziale Absicherung so breiter Arbeitnehmerschichten derart stark ausgeprägt?
David Voggeser: Es spielt sicherlich eine Rolle, dass öffentliche Finanzhilfen die individuellen Pandemie-Auswirkungen vielfach wirksam abfedern konnten. Aber wir sehen diese Hilfen eher als verstärkendes Element eines anderen, viel zentraleren Aspekts: der hohen Beschäftigungs- bzw. geringen Arbeitslosenquote. In einem Arbeitnehmermarkt wird die Sicherheit im aktuellen Job eher zweitrangig.
Welche Aspekte werden denn wichtiger?
Frank Gierschmann: Es sind die bereits angerissenen Aspekte von Arbeitsumfeld und -inhalt. Auch rückt die Sinnhaftigkeit der Arbeit in den Vordergrund und damit auch das entsprechende Verhalten des Arbeitgebers. Unternehmen mit einer klaren Talent Strategie, die Entwicklungschancen aufzeigt und Diskriminierung in jeder Hinsicht ausschließt, werden beispielsweise attraktiver im Vergleich zu solchen gesehen, die diesbezüglich Defizite haben – oder möglicherweise darüber einfach nicht gut genug sprechen.
David Voggeser: Nicht umsonst weisen wir in unseren Studien zum Human Capital Management immer wieder auf die Bedeutung einer klaren und offensiven Kommunikation von entsprechenden Prozessen und Kennzahlen hin.
Das betrifft aber im Wesentlichen börsennotierte Unternehmen …
David Voggeser: Nein! Das betrifft alle Unternehmen. Ein nichtbörsennotierter Arbeitgeber mit einer bestechenden Human-Capital-Management-Kommunikation wird sich im aktuellen Arbeitsmarkt leichter als Vorbild und damit attraktiver Arbeitgeber positionieren können als ein börsennotiertes Unternehmen, das nur den ESG-Mindeststandards seiner Investoren folgt und dazu auch noch dürftig veröffentlicht.
Zurück zur eigentlichen Kündigungswelle: Werden wir die in den USA zu verzeichnenden Dimensionen auch in Europa und im deutschsprachigen Markt sehen?
Frank Gierschmann: Es lassen sich durchaus Ähnlichkeiten zwischen den Geschehnissen in den USA und dem europäischen Arbeitsmarkt erkennen. So sind es auch in Deutschland Personen auf mittleren Karriereebenen und im Alter von 35 bis 44 Jahren, die sich durch die COVID19-Pandemie am stärksten belastet fühlen und am deutlichsten in ihrer Arbeitsmotivation eingebüßt haben. Aber noch sehen wir hier die US-Dimensionen nicht, auszuschließen ist es aber nicht.
Was sind die größten Gefahren für Unternehmen aus einer solchen Fluktuationswelle?
David Voggeser: Da braucht es nicht viel Phantasie. Massenhafte Kündigungen werden für Unternehmen in vielerlei Hinsicht teuer. Besonders wenn viele Mitarbeitende gleichzeitig oder kurz aufeinander Abschied nehmen, hat das natürlich direkte Auswirkungen auf die Produktivität und die entsprechenden Umsatz- und Gewinngrößen. Vielfach wandert damit Wissen und Erfahrung in einem Maße ab, das sich nicht mehr kompensieren lässt. Gleichzeitig steigen die Kosten für Vertretungen und Neubesetzungen. Pro vakanter Stelle machen diese im Durchschnitt gut die Hälfte eines Jahresgehalts aus.
Frank Gierschmann: Austritte und die häufige Einarbeitung neuer Mitarbeitender senken zudem das Engagement verbleibender Arbeitskräfte, die Moral im Unternehmen als Ganzes und schaden auch der Arbeitgebermarke. Dies wiederum senkt die Anziehungskraft auf neue Talente, um die gegenwärtig ohnehin wie nie zuvor gerungen wird.
Sie empfehlen ein gezieltes Retention Management. Was verbirgt sich dahinter?
David Voggeser: Retention Management heißt, entlang der gesamten Employee Journey im Unternehmen Schwachstellen und Probleme mit Blick auf die Mitarbeiterzufriedenheit zu identifizieren und gleichzeitig durch gezielte Gegenmaßnahmen den menschlichen, fachlichen und kulturellen Kitt im Unternehmen zu stärken. Die Hebel, um einer ungewollten Fluktuation entgegenzuwirken, sind dabei ebenso vielfältig wie die Ursachen unternehmensspezifisch ausgeprägt sind. Es gibt nicht den einen goldenen Schlüssel!
Frank Gierschmann: Selbst bislang hoch attraktive Arbeitgeber müssen sich bewusst werden, dass sie mit einem schwerwiegenden Problem konfrontiert werden könnten. Nicht selten ist es ein schleichender, sich selbst verstärkender Prozess, der zu einer hohen Fluktuationsquote führt. Um am Ende nicht vor einem Scherbenhaufen zu stehen, sollten Unternehmen regelmäßig eine Reihe von Indikatoren prüfen. Dabei können Fragen helfen, wie beispielsweise: Wie viele und konkret welche Stellen sind es, die nur mit Mühe oder gar nicht besetzt werden? Verzögern sich Projekte oder werden diese aufgrund von fehlendem Personal gestrichen? Verlassen immer wieder vor allem erfolgskritische Leistungsträger das Unternehmen bzw. sinkt deren Engagement und Zufriedenheit?
David Voggeser: Wobei sich nicht nur auf altgediente Leistungsträger konzentriert werden sollte. Auch vermehrte Kündigungen schon in der Probezeit können ein wichtiger Indikator für Retention-Probleme sein.
Warum nicht einfach die Vergütung erhöhen?
David Voggeser: Weil die Welt komplexer geworden ist! Ein angemessener Verdienst ist immer Voraussetzung für die Gewinnung, Bindung und Motivation von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Fehler hier können auch kurzfristige bzw. einmalige monetäre Zuwendungen wie Prämienzahlungen, Aktien oder auch Nutzungsgewährungen etwa für Firmenfahrzeuge nicht kompensieren. Letztere Maßnahmen bewirken in der Regel temporäre Verbesserungen.
Frank Gierschmann: In der aktuellen Gemengelage sind Entwicklungen wichtiger, die sich unter den Schlagworten Purpose, gemeint ist die Sinnhaftigkeit der eigenen Tätigkeit in einem größeren wirtschaftlichen und/oder gesellschaftlichen Kontext, sowie ESG-Konformität subsumieren lassen. Arbeitgeber, die vorbildlich im Sinne von umweltspezifischen, gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen agieren und diese Vorbildrolle auch aktiv und professionell kommunizieren, haben eine höhere Attraktivität für Talente.
David Voggeser: Auch die Chance zur Mitgestaltung von Rahmenbedingungen der eigenen Arbeit erweist sich als gewichtiges Pfund in der Verbesserung von Retention-Quoten, etwa durch die Etablierung flexible Arbeitszeitmodelle, Förderung bzw. Bereitstellung von Kindergartenplätzen oder aber Optionen für Remote Work. In jedem Fall gilt, dass die richtige Adressierung einer Zielgruppe entscheidend dafür ist, ob die gebotenen Anreize zu einer höheren Mitarbeiterbindung führen oder aber deren Einsatz wirkungslos bleibt.
Welches Vorgehen empfehlen Sie im Rahmen eines gezielten Retention Managements?
Frank Gierschmann: Sind die Problembereiche und Ursachen identifiziert, können maßgeschneiderte Lösungen entwickelt werden. Dabei rückt die Schaffung positiver Mitarbeitererlebnisse entlang des Employee Lifecycles im Unternehmen in den Fokus. Die dabei zielführenden Maßnahmen müssen zielgruppenspezifisch sein, beispielsweise die individuellen Bedürfnisse von Neueinsteigern, Teilzeitkräften, Mitarbeitern als Betreuende von Kindern oder Eltern, Führungskräften etc. adressieren.
David Voggeser: Die Berücksichtigung verschiedener Lebensumstände und Ansprüche ist ein entscheidender Faktor für ein nachhaltig erfolgreiches Retention Management – und dabei gleichzeitig auch ein Garant für ein hohes Engagement von Mitarbeitern, was wiederum auf die individuelle Leistungsfähigkeit und die Gesamtperformance des Unternehmens einzahlt.
Wenn es den einen Ansatz im Retention Management nicht gibt, was genau bietet dann die hkp/// group Retention Toolbox?
David Voggeser: Die Retention Toolbox ist eine Zusammenstellung praxisbewährter Methodik und Checklisten. Durch die kombinierte Verwendung quantitativer sowie qualitativer Methoden hilft der hkp/// group Baukasten in einem ersten Schritt dabei, betroffene Zielgruppen treffsicher zu identifizieren und zu den eigentlichen Ursachen von Fluktuation vorzudringen. Speziell der erste Schritt ist enorm wichtig, denn oft wird an Symptomen als vermeintlicher Ursache gearbeitet.
Frank Gierschmann: Daneben enthält unsere Retention Management Toolbox das nötige Rüstzeug, um lokalisierte Fehler bzw. Ansatzpunkte effizient und effektiv zu bearbeiten. Aufgrund der strukturieren und allgemeinverständlichen Erläuterungen und Tools bedarf es dabei keiner spezialisierten Fachkraft in der Anwendung. In der Umsetzung von Vorteil ist natürlich eine Projektleitung und - je nach Größe der Aufgabe - ein kleines Team aus dem HR-Bereich.
Wie lange braucht ein durchschnittliches Unternehmen, um auf dieser Basis Erfolge zu sehen?
David Voggeser: Wir haben hier keinen Zauberstab, dessen Anwendung die magische Auflösung sämtlicher Retention-Probleme verspricht. Die Toolbox versteht sich vielmehr als Handreichung und Instrumentenkasten, mit dem Ziel der Adressierung bislang nicht erkannter oder genügend berücksichtigter Themen in der Gestaltung einer zielführenden Employee Experience.
Frank Gierschmann: Damit ist auch klar, dass es nicht ausreicht, die Toolbox einmal hervorzuholen, einzusetzen und dann wieder in der Mottenkiste verschwinden zu lassen. Im Gegenteil: Ziel ist es, einen fortlaufenden Denk- und Gestaltungsprozess anzustoßen und dabei im Unternehmen breit und tief verwurzelt das Bewusstsein für eine dauerhafte Berücksichtigung des Themas Bindung erfolgskritischer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu schaffen.
Vielen Dank für das Gespräch!