Anfang November wurde Judith Wiese, Chief People und Sustainability Officer der Siemens AG, als CHRO of the Year geehrt. Der von Mercer initiierte und durch das Personalmagazin betreute Publikumspreis der HR-Community zeichnet jährlich einen/eine Chief Human Resources Officer aus, der oder die eine Vorbildfunktion für die Profession hat. Aber wie steht es um die aktuelle Wahrnehmung und Agenda von CHROs und Personalverantwortlichen? Eine Bestandsaufnahme der Mercer | hkp///group Advisors Petra Knab-Hägele und Kai Anderson. 

Herr Anderson, was ist die Intention des von Ihnen ins Leben gerufenen CHRO of the Year Awards?

Kai Anderson: Mit dem Titel CHRO of the Year wird jährlich ein oberster Personalverantwortlicher bzw. eine oberste Personalverantwortliche ausgezeichnet, der oder die Herausragendes für ihr Unternehmen leistet und eine Vorbildfunktion für die Profession hat. Diese besondere Leistung wollen wir auf individueller Ebene, wie auch insgesamt auf Ebene der Personalfunktion würdigen, ohne dass wir als Initiatoren die Auswahl vornehmen. So sind in diesem Jahr beim Online-Voting des Personalmagazins knapp 9.000 Rückmeldungen aufgelaufen, die deutliche Mehrheit dabei für Judith Wiese als der finalen Preisträgerin. Wir gratulieren auf das Herzlichste!

Im Rahmen des Awards wurden die besonderen Herausforderungen eines bzw. einer CHRO in den aktuellen Zeiten angesprochen. Was kennzeichnet derzeit die CHRO-Position?

Petra Knab-Hägele: CHROs sind aktuell in einer schwierigen Rolle. Einerseits muss er bzw. sie an der Schnittstelle zum Business die Transformation des eigenen Geschäftsmodells vorantreiben und so mit dafür Sorge tragen, dass Wettbewerbsfähigkeit und Unternehmenserfolg gesichert sind…

…schließlich ist jede Transformation auch eine Workforce Transformation!

Petra Knab-Hägele: So ist es. Andererseits braucht es auch einen Stabilitätsanker in der Organisation, der als Mitglied der Geschäftsleitung oder auf der Ebene darunter bei aller Komplexität im Alltag den Mitarbeitenden Sicherheit in Fragen des zukünftigen Arbeitsumfelds und -inhalts gibt. 

Kai Anderson: Es braucht schlicht souveränes Handeln entlang eines klaren Ziel- und Wertekompasses, das alltagsgetriebenes operatives Klein-Klein in den Hintergrund treten lässt. In diesem Jahr ist dies nach Meinung der deutschsprachigen HR-Szene Judith Wiese in herausragender Weise gelungen.

Ein Element in der Award-Laudatio von Dr. Viehweger, CHRO von Scout24, war der Aspekt, dass Fragen der sozialen Nachhaltigkeit und damit des HR-Managements, eine immer größere strategische Bedeutung erlangen und Frau Wiese hier Entscheidendes geleistet hat.

Kai Anderson: Frau Dr. Viehweger hat hier einen zentralen Punkt der aktuellen CHRO-Agenda angesprochen. Es ist in der Tat so, dass soziale Nachhaltigkeit zum zentralen Element der Personalarbeit avanciert. Erstens legen Kunden bei ihren Kaufentscheidungen darauf Wert. Unternehmen, denen in der Presse oder in den Sozialen Medien nicht angemessenes Verhalten nachgesagt wird, spüren das in ihrer Bilanz. Zweitens sind den Akteuren des Kapitalmarkts regulatorisch soziale Kriterien für ihre Investitionen vorgegeben; also drehen sie sich um, und geben diese Kriterien an Unternehmen bzw. an deren Berichterstattung weiter.

Petra Knab-Hägele: Und drittens müssen Unternehmen bis 2028 ihre nicht-finanzielle Berichterstattung auf die Anforderungen der EU-Richtlinie ESRS S1 ausrichten. Viele sind mit ihrem Datenmanagement nicht darauf vorbereitet und/oder sehen darin eine bloße Last. Doch hier bietet sich das Bild des Fahrstuhls an: HR-Verantwortliche können entscheiden, ob sie in das Strategie-Penthouse hochfahren, wenn sie die Taste S drücken, oder ob es abwärts geht in den muffigen Datenkeller. 

Frau Knab-Hägele, Sie organisieren einen regelmäßigen Austauschkreis von CHROs der großen börsennotierten und mittelständischen Unternehmen, mit dem Sie die genannten Herausforderungen adressieren. Wie ist die Resonanz?

Petra Knab-Hägele: Die Herausforderungen sind groß, und können nur gemeinsam gemeistert werden. Deshalb ist es uns wichtig, dass an dem mit der DGFP organisierten CHRO Roundtable-Format neben maßgeblichen Personalverantwortlichen auch Vertreterinnen und Vertreter aus Aufsichts- und Betriebsräten, Verbänden sowie Institutionelle Investoren ihre Sicht auf das Thema soziale Nachhaltigkeit und dessen Implementierung in den Employee Life Cycle einbringen. Und die Lust an dieser Diskussion ist bei allen spürbar, insbesondere der Austausch zu unterschiedlichen Perspektiven wird immer wieder wertgeschätzt. 

Wie schauen speziell CHROs und Personalverantwortliche konkret auf das Thema Nachhaltigkeits-Regulatorik? Die Spanne der Meinungsbildung reicht hier ja von Last bis Lust…

Petra Knab-Hägele: Die Sozialstandards der europäischen HR-Regulatorik, konkret die ESRS, sind Bestandteil unseres Wirtschaftsalltags. Zu erwarten, dass sie durchgehend als Verkaufsschlager bejubelt werden, ist sicherlich zu viel des Guten, bedeutet doch das in diesem Kontext erforderliche Zählen, Messen, Wiegen und Berichten einen erheblichen Aufwand. 

Kai Anderson: Und vielen Unternehmen fehlen vielfach noch die dafür erforderlichen Daten, Infrastrukturen, Prozesse - und auch Talente. Zudem scheinen die Themen, um die es eigentlich geht, hinter den Messgrößen zu verschwinden.

Was wären solche Themen?

Kai Anderson: Nun, soziale Nachhaltigkeit ist eine Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg: Sind die Mitarbeitenden motiviert, weil es ihnen mit ihrem Unternehmen gut geht, dann stimmen auch die Geschäftsergebnisse. Erkenntnisse von Personalern, die zum Teil lange auf Basis von Gefühl und Bauchentscheidungen beruhten, müssen und können jetzt regulatorisch legitimiert über konkrete KPIs ermittelt und in schlüssige Berichten nach innen wie außen kommuniziert werden.

Petra Knab-Hägele: Letztlich rückt unter dem Label der sozialen Nachhaltigkeit das Wohlergehen der Mitarbeitenden wieder in den Blick. Es geht um Menschen entlang der Lieferketten, in den Gemeinschaften, in denen sich Unternehmen engagieren. Und es geht um aktuelle wie zukünftige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. HR bietet sich über die Regulatorik die Chance, die People-Strategie mit dem S zu verknüpfen und den Schwung des Ganzen zu nutzen, um weitere spezifische Themen der eigenen HR-Agenda zu positionieren. 

Mit Blick auf die Regulatorik geben sich Unternehmen gern überlastet bzw. überfordert – zumindest prägt dieser Tenor noch die öffentliche Debatte…

Kai Anderson: Ich sehe hier einen Wandel: Es gibt zurecht sehr deutliche Kritik an der Regulatorik, insbesondere an der Feinstreifigkeit und ihrem Gesamtumfang. Nicht ohne Grund wird auf europäischer Ebene bereits eine Reduzierung der entsprechenden Vorgaben diskutiert. Aber egal, wie viele Kennzahlen am Ende zu berichten sind, das Zauberwort lautet doch Materialität: Was ist entscheidend für unser Geschäft? Was macht uns als Unternehmen und unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemeinsam erfolgreich? 

Petra Knab-Hägele: Eine von uns durchgeführte Analyse unter den DAX40-Unternehmen hat gezeigt, dass Durchschnittlich 13 und im Maximum 37 ESG-Themen als materiell eingestuft werden. 40% der veröffentlichten materiellen Themen entfallen auf soziale Nachhaltigkeit, ein Drittel auf Umwelt- und etwa ein Viertel auf Governance-Belange. Dies zeigt die Relevanz der S-Themen. Und es hilft, aus den vielen Datenpunkten die für die Berichterstattung maßgeblichen auszuwählen. Investoren erwarten klare Aussagen zu den wirklich relevanten Erfolgs- und Risikofaktoren. Personalverantwortliche können auf Basis von Materialitätsanalysen die im Regulatorik-Kontext relevanten Kennzahlen durch unternehmensspezifische komplettieren. So gelingt es, eine überzeugende Story mit Substanz zu erzählen – und aus der Last wird wahrscheinlich auch ganz schnell eine Lust. 

Es kommt also darauf an, was man aus allem macht…

Kai Anderson: Am Ende ist die evidenzbasierte Berichtsfähigkeit zu S-Themen für HR-Verantwortliche die Plattform, um in der Geschäftsleitung auf Augenhöhe in eine konstruktive Diskussion zu strategischen Fragestellungen eintreten zu können. Auf einmal klopft auch der Aufsichtsratsvorsitzende für seinen Dialog mit Investoren zur Beantwortung erfolgskritischer Fragestellungen bei HR an.

Petra Knab-Hägele: Transformation und Regulatorik führen ganz klar zu einer Aufwertung der HR-Funktion und der Rolle des/der CHRO, wie sie schon lange als notwendig diskutiert wurde.

Kai Anderson: Ein Award, wie der von uns initiierte CHRO of the Year, kann dazu einen kleinen Beitrag in der diesbezüglichen Debatte leisten. Er ist nicht zuletzt ein Spiegel des Wandels in der öffentlichen Wahrnehmung von Personalarbeit und der dafür Verantwortlichen wie auch der Relevanz von S-Themen für den Unternehmenserfolg. Wir freuen uns daher auf eine Fortsetzung dieses Projekts mit dem Haufe-Verlag bzw. dem Personalmagazin…

Petra Knab-Hägele: ... ebenso über den fortgesetzten, intensiven Austausch im Rahmen unserer CHRO Roundtable-Serie. 

Frau Knab-Hägele, Herr Anderson, vielen Dank für das Gespräch.

Autor Petra Knab-Hägele

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