Frau Vandervelt, Herr Pfeiffer, als erfahrene HR-Management- und Vergütungsberater: Welche Trends sehen Sie mit Blick auf die Bewertung von Funktionen in Unternehmen und Organisationen?
Verena Vandervelt: Der HR-Megatrend Transparenz ist in den Unternehmen voll angekommen: Mitarbeiter wollen nicht mehr nur die Einstufung ihrer Funktion und die zugrundeliegenden Gründe oder eventuell Kriterien für diese Bewertung verstehen. Vielmehr wollen sie einen transparenten Prozess und ihre Funktion und Arbeit im internen Vergleich fair behandelt wissen.
John Pfeiffer: Gleichzeitig werden Unternehmen schneller und dezentraler, nicht nur in Geschäfts-, sondern auch in den HR-Prozessen. Und die klassischen Konzernstrukturen, die sogenannten Tanker, entwickeln sich zum Flottverband: Neben bisher tief geschachtelte Hierarchien treten nun Start-ups, agile Einheiten und klassische Organisationsformen mit flacheren Strukturen. „De-Layering“ ist das Stichwort, das für den Rückbau von nicht mehr notwendigen Management-Ebenen steht.
Was verändert sich durch diese Verschlankung, das De-Layering, mit Blick auf Führung?
Verena Vandervelt : Es entstehen teils größere Führungsspannen, mitunter nur noch ein bis zwei Management-Ebenen zum Vorstand und darunter agile Einheiten. Damit nimmt die Heterogenität von Stellen bzw. Funktionen auf einer Ebene und im gesamten Konzern zu.
John Pfeiffer: Die Autonomie des einzelnen Experten gewinnt klar an Bedeutung – Experten genießen in der aufgelockerten Organisation viel mehr Gestaltungsfreiheit und Handlungsspielraum als bisher.
Wird damit das Ende der Funktionsbewertung eingeläutet?
John Pfeiffer: Diese Aussage ist immer mal wieder zu hören – oft von denen, die Grading noch nie gemocht haben. Fakt ist aber, dass die Komplexität von Arbeit, Tätigkeits-Clustern und der gesamten Unternehmensorganisation zugenommen hat. Damit sind übergreifende Vergleiche schwieriger geworden – sei es im internen Unternehmensvergleich wie im externen Vergleich mit dem Markt.
Verena Vandervelt : Auf diese gestiegene Komplexität trifft gleichzeitig der HR-Megatrend der zunehmenden Transparenz. Mitarbeiter wollen fair vergütet werden, ihre Entwicklungsmöglichkeiten nutzen und diese selbst in die Hand nehmen. Sie vertrauen nicht mehr einfach einem Panel, das über ihre Funktion befindet. Nachvollziehbarkeit und Einblick in einen Quervergleich sind wichtiger geworden.
John Pfeiffer: In der Tat ist die faire Vergütung stärker in den Vordergrund gerückt. Ein neutrales Grading auf analytischer Basis dient als idealer Ausgangspunkt für eine faire Gehaltspolitik, die sowohl juristischen Herausforderungen als auch der Interaktion mit Mitbestimmungsgremien standhalten kann.
Sie plädieren also für bewährte analytische Funktionsbewertungsmethoden?
John Pfeiffer: Nicht ganz, denn die bisherigen Methoden sind komplizierte Expertenverfahren. Sie passen deswegen taktisch nicht unbedingt zu allen Situationen…
Verena Vandervelt : Kalibriert und korrekt gehandhabt sind sie aufwändig – in jeder Hinsicht. Heutzutage aber braucht es zeitnahe Entscheidungen, möglichst an Ort und Stelle im Unternehmen – nicht als Black Box durch das CoE im Headquarter, das als Gralshüter der Bewertungsmethode agiert.
Es geht heute also immer um Verständlichkeit und Transparenz…
John Pfeiffer: Exakt, und das sowohl hinsichtlich der Bewertungsmethode als auch der Prozesse. Mittlerweile gilt auch die seit der Jahrtausendwende übliche, wenngleich abgespeckte Form der Bewertung von Referenz-Funktionen und des Slottings verbleibender Funktionen als zu langwierig.
Verena Vandervelt: Tatsächlich wird heute mit deutlich weniger Referenzfunktionen und mit weniger und unternehmensspezifischen Bewertungskriterien gearbeitet. Komplexität und Impact sind die wesentlichen Unterscheidungsmerkmale für Arbeit und Aufgaben.
Welche Alternativen bieten sich dann in der Funktionsbewertung?
Dr. Christine Abel: Auch wenn es ein bisschen wie im Asterix-Comic klingt: Die Lösung heißt Summalytik!
Das müssen Sie erläutern!
Verena Vandervelt : Unter dem Kunstbegriff Summalytik verstehen wir einen Mix aus klassischen Formen der reinen Summarik und Analytik. Die eine wird als nicht genügend trennscharf empfunden und die andere als zu überbordend komplex.
John Pfeiffer: Summalytik reicht vom pragmatischen Ranking der Funktionen unter Berücksichtigung ausgewählter Kriterien bis hin zur Diskussion und Bewertung weniger Referenzfunktionen gefolgt von dem Slotting verbliebener Funktionen mittels multipler Paarvergleiche – je nach Anlass und Bedarf.
Aber was ist daran wirklich neu?
Verena Vandervelt: Die Reduktion auf das Wesentliche an Komplexität ist das neue Prinzip – nur so viel, wie unbedingt nötig, bei gleichzeitig erhöhten Transparenzanforderungen.
John Pfeiffer: Und Rangreihen können in größeren Gruppen von unterschiedlichen Stakeholdern diskutiert werden – so dass der Prozess deutlich offener und transparenter wirkt. Am Ende des Verfahrens ergibt sich kein wissenschaftlich bewiesener Punktwert, sondern ein gesamthaftes Ranking, das sich anhand von neutralen, geschäftsnahen Faktoren rechtfertigen lässt.
Welche Erkenntnisse haben dazu geführt?
John Pfeiffer: Die erhöhte Komplexität durch veränderte Organisationsstrukturen und erhöhte Mitarbeitererwartungen erfordern eine strukturierte Diskussion – und ein schlichtes Ranking ist bei der zunehmenden Anzahl an Stakeholdern nicht mehr ausreichend.
Also braucht es doch Analytik in der Funktionsbewertung?
Verena Vandervelt: Ja, ein gewisses Maß ist sinnvoll, aber eben keine Raketenwissenschaft in einer Geheimsprache, die nur Experten im CoE verstehen. Es geht um eher weniger Bewertungskriterien und Prinzipien für die Prozesse.
Das klingt wie ein Anachronismus.
Verena Vandervelt: Fakt ist: Starre und universelle Regeln funktionieren in Zeiten von permanent beta nicht mehr. Die Lösung liegt in einer schlanken Analytik mit zwei bis drei Bewertungskriterien und Prinzipien, im Sinne von Grundsätzen oder Leitplanken zum Handling und zur Vorgehensweise.
John Pfeiffer: Und das Management der Strukturkosten gewinnt deutlich an Bedeutung, also eine Gratwanderung zwischen gewissenhafter Governance und geschäftsnaher Agilität in der Gestaltung der dazugehörenden Prozesse.
Was raten Sie Unternehmen, die die Einführung eines Grading erwägen?
John Pfeiffer: Das Ganze muss zielgerichtet sein – so komplex wie nötig, so einfach wie möglich. Bevor man sich für einen Grading-Ansatz entscheidet, ist zu klären, was Ziel der Funktionsbewertung ist: Geht es eher um Vergütungs-Benchmarking oder sollen auch Karrierepfade und Projektlaufbahnen damit verknüpft sein?
Verena Vandervelt: Grading findet nur dann Akzeptanz, wenn es die Realität wiederspiegelt. Auch sollte berücksichtigt werden, wie das System in der Zukunft gepflegt werden soll. Grading ist ein Steuerungsinstrument. Es muss den organisationalen Umbau, Aufbau oder gar Neubau einer Organisation abbilden können.
Frau Vandervelt, Herr Pfeiffer, vielen Dank für das Gespräch.