COVID-19 und die wirtschaftlichen Konsequenzen sorgen dafür, dass sich Organisationen nach innen und außen neu aufstellen oder zumindest Teilereiche neu justieren müssen. HR befindet sich in diesem Sturm im Cockpit als zentrale Instanz zur Umsetzung teils einschneidender Maßnahmen – wobei auch die HR-Teildisziplinen selbst in kürzester Zeit einen Wandel bei Aufgaben und deren Priorisierung durchleben. hkp.com sprach mit dem hkp/// group Experten Frank Gierschmann zu den aktuellen Herausforderungen im Talent Management im Kontext von Corona. 

Her Gierschmann, welche Rolle spielen HR und das Talent Management in Zeiten von Social Distancing?
Frank Gierschmann:
Natürlich eine sehr bedeutende! Ohne hier jede einzelne Herausforderung aufzählen zu wollen, geht es am Ende darum, im Personalmanagement die Gesundheit von Mitarbeitenden und dem Unternehmen durch wichtige Weichenstellungen sicherzustellen. In manchen Unternehmen geht es um die Existenz. Und gerade das Talent Management besitzt viele Kompetenzen, die in der derzeitigen Krise gebraucht und aktiv nachgefragt werden.

Welche sind das konkret?
Frank Gierschmann:
Alleine zu wissen, wo, wie viele und welche Art von Talenten im Unternehmen benötigt werden, vorhanden sind und entwickelt werden können, ist fundamental. Wir stehen vor unsicheren Zeiten, in denen sich manch Unternehmen neu aufstellen oder bestimmte Teile der Organisation neu justieren muss – hier ist das Talent Management gefragt, die richtigen Lösungen anzubieten. Dabei sollte aber nicht rituell an Bewährtem festgehalten, sondern die Krise auch dafür genutzt werden, etablierte Talent-Instrumente auf den Prüfstand zu stellen.

Wie beeinflusst die COVID-19-Pandemie denn das Talent Management?
Frank Gierschmann:
Auf vielfältige Weise. Personalverantwortliche berichten derzeit von Situationen, in denen Führungskräfte beispielsweise keine rein professionelle Rolle mehr spielen, sondern in denen sich authentisches Verhalten Bahn bricht. Auf einmal ist zu erkennen, wer Entscheidungen gut moderieren oder unterschiedliche Perspektiven einnehmen kann, wer gut in die Organisation kommuniziert und in der Ansprache mit Ton und Inhalt auch die Anforderungen der öffentlich relevanten Gruppen trifft.

Die Krise also als Verstärker von Stärken?
Frank Gierschmann:
So kann man es formulieren. Viele Mitarbeiter werden jetzt der besonderen Anforderung an ihre Aufgabe gerecht: Sie treten nach vorne und übernehmen Verantwortung, nicht selten ohne dass sie dafür selbst in der entsprechenden Rolle sind.

Es blühen aber nicht alle Mitarbeitenden in dieser Situation auf…
Frank Gierschmann:
Richtig, das ist die Kehrseite. Es gibt auch Manager, die sich unter dem Druck der Krise vollkommen zurückziehen. Sie werden unsichtbar oder agieren nicht angemessen. Sie zeigen sich unentschlossen, argumentieren zynisch und gehen nicht in die Verantwortung.

Also die Krise als Katalysator in der Trennung zwischen Spreu und Weizen in Führungsfragen?
Frank Gierschmann:
Die Krise führt zu individuellen Bewährungssituationen und stellt Führungskompetenzen auf den Prüfstand. Wenn die Krise ein Assessment Center wäre, hätten wir ein neues Instrument, um Qualitäten im Krisenmodus zu identifizieren.

Der Resilienz-Test unter Live-Bedingungen also?
Frank Gierschmann:
Resilienz als das gefeierte Mode-Wort und herausragende Dimension zur Identifikation von Potenzialträgern wird durch die Krise sichtbar. Doch in Sachen Krisentauglichkeit gibt es sogar noch eine erkennbare Steigerung.

Eine Steigerung zum Typus der resilienten Mitarbeiter, die Stabilität und Handlungsfähigkeit in schwierigen Situationen gewährleisten?
Frank Gierschmann:
Tatsächlich kennt die Wissenschaft in der Klassifikation von Typologien in der Reaktion auf Druck eine Kategorie „antifragil“. Sie beschreibt, dass ohnehin bereits resiliente Personen unter Druck noch stärker werden. Das komplette Gegenteil dieses Typus wird passenderweise als „fragil“ bezeichnet: Mitarbeitende, die in vergleichbaren Situationen überfordert sind, nach Orientierung suchen und Angst haben, Entscheidungen zu fällen.

Die Krise verlangt jetzt also nach antifragilen, durch die Krise stärker werdende Talente?
Frank Gierschmann:
Sie bietet zumindest die große Chance, diese zu identifizieren. Ganz nüchtern aus Talent Management-Sicht betrachtet, stellt die Krise ein ideales, ungeschütztes Action-Learning-Feld dar. Herausforderungen müssen nicht erfunden und künstlich simuliert werden. Und so erhalten aktuell ganze Populationen an Mitarbeitern Gelegenheit, direkt in einer Krisensituation zu agieren.

Wenn Sie denn zum Zug kommen, das heißt bereits auf der richtigen Position sitzen und nicht in einem Talent Pool als statistische Größe geführt werden…
Frank Gierschmann:
Talent Manager sollten die sich bietenden Gelegenheiten nutzen, Potenzialträger nicht nur zu identifizieren, sondern auch tatsächlich an den relevanten Positionen einzusetzen und zu fördern. Und das gilt nicht nur für Personen, die in den angesprochenen Talent Pools geführt werden, sondern für alle, die jetzt Herausragendes für Ihr Unternehmen leisten.

Worauf ist hier zu achten?
Frank Gierschmann:
Wichtig ist, bei der Identifizierung, der Stellenbesetzung oder gar der Steuerung der Laufbahnen die bestehenden Kriterien zu hinterfragen. Dabei sollten auch neue Wege nicht außer Acht gelassen werden. Vormals unscheinbare, aber in der Krise antifragil agierende Talente sollten an relevanten Aufgaben wachsen können. Gleichzeitig sollten die zukünftigen und aktuellen Potenzialträger nicht alleine gelassen werden.

Talent Management hat also potenziell einiges zu tun.
Frank Gierschmann:
Die aktuelle Situation sollte für die Entwicklung von kritischen Kompetenzen für eine dynamische Umwelt genutzt werden. Denn die Krise mag hoffentlich bald überwunden sein, die Unsicherheit im Geschäft wird jedoch bleiben. Und möglicherweise kann dann das eine oder andere Unternehmen schon mit einer neuen Generation an Führungskräften agieren.

Herr Gierschmann, herzlichen Dank für das Gespräch!

Autor Frank Gierschmann

Sie möchten mehr zum Thema wissen?

Vereinbaren Sie einen (Telefon-) Termin mit Frank Gierschmann