Frank Gierschmann: Der Fachkräftemangel stellt Unternehmen in vielen Branchen und Fachbereichen vor enorme und vielfach auch neue Herausforderungen. Eine Gruppe bereitet dabei besondere Bauchschmerzen: die Experten – also Mitarbeiter, die genau die Expertise mitbringen, die so dringend zur Umsetzung strategischer Ziele benötigt wird.
Laura Hohmann: Anders als früher reden wir heute von einem ganz anderen Business-Kontext als noch vor ein paar Jahren. Während früher Unternehmen vor allem in ihrem angestammten Geschäft wachsen wollten, geht es heute um weitreichende Veränderungen in Geschäftsmodellen. Und ohne Experten sehen die nur auf dem Papier gut aus.
Frank Gierschmann: Automobilhersteller haben den Verbrennungsmotor laufend verbessert und ihr Produktions- und Vertriebsnetz internationalisiert. So weit, so gewohnt. Seit zwei, drei Jahren erleben wir jedoch einen Umbruch. Unternehmen wollen sich zu Mobilitätsdienstleistern entwickeln; es geht um neue Themen wie autonomes Fahren und Elektromobilität, die wir im Zweifel gestern noch nicht kannten und die morgen schon wieder überholt sind.
Laura Hohmann: Dafür brauchen sie eben Mitarbeiter mit besonderem Know-how und umfassenden Erfahrungen, vor allem rund um die Digitalisierung. Und sie hätten diese Experten am liebsten sofort verfügbar. Weil die Zeit drängt, reicht es nicht, Mitarbeiter aus den eigenen Reihen in die gefragten Positionen zu entwickeln. An Bedeutung gewinnt deshalb die Rekrutierung geeigneter Absolventen und erfahrener Experten. Dazu kommt, dass branchenübergreifend ähnliche Profile an Bedeutung gewinnen. Das verschärft die Knappheit an Experten zusätzlich.
Die Lösung liegt also in einem intensiveren Recruiting?
Frank Gierschmann: Unternehmen müssen nicht einfach nur intensiver rekrutieren, sondern schlichtweg anders – das gilt mit Blick auf alle Branchen und Expertenrollen. Wer im Recruiting zum Beispiel weiter mit ausgefeilten diagnostischen Prozessen arbeitet, verliert geeignete Kandidaten im schlimmsten Fall schneller, als er Employee Value Proposition sagen kann.
Aber woran liegt das? Die Eignungsdiagnostik arbeitet doch mit wissenschaftlich abgesicherten Verfahren.
Laura Hohmann: Das stimmt. Sie wurde jedoch auf die Auswahl des besten Bewerbers aus einem vorselektierten Kandidatenpool ausgerichtet. Dabei ging es um standardisierte komplexe Kompetenzprofile und auch um den kulturellen Fit zur Organisation. Um zu sehen, wie gut Experten diesen Profilen entsprechen, braucht es aussagekräftige diagnostische Instrumente.
… und heute muss man diesen einen Experten mit dem gesuchten speziellen Wissen und Können überhaupt erst einmal finden…
Laura Hohmann: Genau! Ist das gelungen, muss diese Person dann nicht mehr ausgewählt, sondern für die eigene Organisation begeistert werden, damit sie sich für den betreffenden Arbeitgeber entscheidet.
Frank Gierschmann: Pointiert gesagt: Früher konnte man kaum gravierende Fehler machen, als es darum ging, aus einer Gruppe von grundsätzlich geeigneten Bewerbern einen auszuwählen. Heute müssen Unternehmen den gesuchten F&E-Ingenieur, den IT-Sicherheitsexperten oder den Software-Entwickler vor allen anderen finden und ihn dann mit dessen persönlichen Interessen abholen.
Wie sollte die Rekrutierung von Experten also aussehen?
Frank Gierschmann: Wir brauchen einen Perspektivenwechsel, der die traditionelle Eignungsdiagnostik mit dem Marketing und Sales im Recruiting verbindet. Organisationen, die jetzt Kompromisse eingehen, werden das entweder durch einen nachlassenden Zustrom an Mitarbeitern spüren oder sie haben morgen die falschen Mitarbeiter an Bord. Dummerweise wirkt sich beides unmittelbar auf die Leistungserbringung des Unternehmens aus.
Laura Hohmann: Analog zur B2B-Kommunikation sollten Unternehmen Experten als Key-Accounts sehen, die gezielt angesprochen und überzeugt werden müssen.
Frank Gierschmann: Das Marketing bereitet den Boden: Unternehmen sollten ihre Arbeitswelt und die Gesamtvergütung als Leistungsangebot auf die Präferenzen von Experten zuschneiden; sie schätzen etwa Freiraum und Entwicklungschancen. So können sich die Unternehmen als Expertenorganisationen positionieren und diese Positionierung imagestark kommunizieren.
Laura Hohmann: Ein Image als Expertenorganisation ist die beste Basis für wirkungsvolle Sales-Maßnahmen. Dazu gehört die direkte Ansprache geeigneter Kandidaten durch externe oder interne Talent Sourcer. Experten sind rar und intensiv umworben, allgemeine Stellenangebote führen deshalb nicht weiter, dafür umso mehr der persönliche Kontakt.
Wandert der Aufwand also von der Diagnostik zur Ansprache?
Laura Hohmann: Ja, denn nur, wenn Unternehmen geeignete Kandidaten identifizieren und auf sie zugehen, kommen sie mit diesen schneller ins Gespräch als ihre Wettbewerber auf dem Personalmarkt.
Frank Gierschmann: Die gute alte Eignungsdiagnostik wird dann nicht mehr als einseitiges Auswahlinstrument aufgestellt. Stattdessen wird sie dazu genutzt, mit dem Kandidaten gemeinsam über Bedingungen zu sprechen, zu denen eine Zusammenarbeit erfolgreich sein wird. Eine schöne Entwicklung, die eine Begegnung zwischen Unternehmen und Kandidaten auf Augenhöhe ermöglicht.