Nicht zuletzt bedingt durch neue gesetzliche und regulatorische Vorgaben ist das Aufgabenspektrum von Aufsichtsräten deutlich breiter und vielfältiger geworden – und damit auch ihre Verantwortung und Haftung. Aufsichtsräte, die ihre Aufgaben ernst nehmen und auf diese neuen Rahmenbedingungen kompetent reagieren wollen, kommen um eine gezielte und fortlaufende Qualifizierung nicht umhin. Wichtig ist dabei ein nachhaltiger Ansatz, wie Dr. Viktoria Kickinger von Directors Academy und Dr. Jan Dörrwächter von hkp/// group betonen.

Frau Dr. Kickinger, Herr Dr. Dörrwächter, wie steht es um die Kompetenzen von Aufsichtsräten in Deutschland?

Dr. Viktoria Kickinger: Diese Frage kann ich so pauschal nicht beantworten. Was wir sehen ist, dass das Aufgaben-, Risiko- und Haftungsspektrum von Aufsichtsräten, insbesondere in den führenden börsennotierten Unternehmen, aber auch darüber hinaus, sehr viel breiter geworden ist als noch vor fünf oder gar zehn Jahren und dass gerade in vielen neuen Themenfeldern der Bedarf an Aus- und Weiterbildung größer ist denn je.

Was sind die Auslöser für diese Entwicklung?

Dr. Jan Dörrwächter: Es gibt nicht die eine Zäsur. Die Herausforderungen an den Aufsichtsrat sind durch viele, vor allem gesetzliche Änderungen schrittweise, aber kontinuierlich gestiegen. Eine wesentliche Auswirkung auf die Aufgaben und die Rolle von Aufsichtsräten ergibt sich zum Beispiel aus der zweiten europäischen Aktionärsrechterichtlinie, in Deutschland umgesetzt durch das ARUG II, und der damit verbundenen gewachsenen Machtfülle von Investoren. Denken Sie nur an Fragen wie die Abstimmung zu Vergütungssystemen und -berichten. Hier wollen Investoren genau verstehen, wie das vom Aufsichtsrat vorgeschlagene System funktioniert und zu welchen Ergebnissen es führt, und dabei haben sie konkrete Erwartungen an Unternehmen.

Bei welchen Themen erkennen Sie den größten Nachholbedarf bei Aufsichtsräten?

Dr. Kickinger: Lassen Sie mich diese Frage aus meiner Rolle als Leiterin einer multimedialen Online-Weiterbildungsplattform für Aufsichtsräte beantworten: Bei uns sind aktuell die Themen Governance und Nachhaltigkeit am stärksten nachgefragt. An Bedeutung gewonnen haben aber auch Haftung, Regulierung und die Arbeit im Prüfungsausschuss.

Dr. Jan Dörrwächter: Ein solches Nachfragebild deckt sich auch mit den Gesprächen aus unseren Beratungsmandaten. So fragen Aufsichtsräte nach Unterstützung etwa zur Umsetzung von Nachhaltigkeitsvorgaben in der Aufstellung und Organisation des Aufsichtsrats selbst, aber auch in der Vergütung des Vorstands. Gerade dort besteht ein erhöhter Beratungsbedarf, zum Beispiel zur Implementierung geeigneter Kennzahlen zur Messung der Nachhaltigkeit in der variablen Vergütung. Zudem muss darauf geachtet werden, dass die Integration von Nachhaltigkeitszielen in das Vergütungssystem praktisch handhabbar bleibt und nicht ein bürokratisches Monstrum schafft.  

Dr. Viktoria Kickinger: Übrigens: Mit den neuen Themen einher geht auch ein anderes Nutzungsverhalten auf Directors Academy, wahrscheinlich auch insgesamt in der Aus- und Weiterbildung von Aufsichtsräten.

Welche Veränderungen meinen Sie?

Dr. Viktoria Kickinger: Nun, wir sehen ein verändertes Lernverhalten, das nicht nur Corona als Ursache hat. Das neue Themenspektrum lässt sich eben nicht auf die leichte Schulter nehmen und ist nicht durch einmaliges Querlesen erledigt. Hier braucht es einen gezielten Aufbau und Ausbau von Kompetenzen. Dafür erforderlich ist genaues Durchdringen, Diskussion und Wiederholung. Auch sehen wir einen stärkeren Wunsch nach Zertifikaten für das Absolvieren bestimmter Module im Rahmen von Ausbildungslehrgängen.

Dr. Jan Dörrwächter: Lassen sie mich das an Beispielen verdeutlichen: Der Aufsichtsrat einer Bank muss nicht jede Verästelung der Institutsvergütungsverordnung kennen, um die Rechtskonformität des von ihm für die Geschäftsleitung zu beschließenden Vergütungssystems bewerten zu können. Dafür darf er den Rat durch qualifizierte interne und vor allem auch externe Experten heranziehen. Aber er muss die Grundzüge des regulatorischen Rahmens kennen, um die richtigen Fragen stellen und die Plausibilität der erteilten Rats beurteilen zu können. Dasselbe gilt etwa für die Beurteilung von Compliance-Fragen oder des Risikomanagement-Systems im Unternehmen.

Würden Sie von einer gesteigerten Nachfrage nach Aus- und Weiterbildungsangeboten sprechen?

Dr. Viktoria Kickinger: In Gesprächen mit Personen, die bereits in einer Aufsichtsratsrolle sind oder eine solche gern übernehmen wollen, spüren wir einen zunehmenden Bedarf an Aus- und Weiterbildungsangeboten zu den relevanten Themen. Die nackten Zahlen aus unseren Analysen als Plattform von entsprechenden Lehrinhalten sprechen dann aber eine andere Sprache.

Inwiefern?

Dr. Viktoria Kickinger: Untersuchungen von Directors Academy aus dem Jahr 2019 weisen eine Aus- und Weiterbildungsquote von nur 3,7% aus. Auch wenn diese Analyse schon älter ist, hat sich bei den aktuellen Zahlen kaum etwas grundsätzlich getan. Unser Markteinblick sagt: Wir sprechen weiterhin von einer Minderheit, die sich regelmäßig aus- und weiterbildet. Der Rest überlässt es dem Zufall oder der Selbsterkenntnis, ob er sein Wissen strukturiert und regelmäßig ausbaut bzw. aktualisiert.

Sind Aufsichtsratsmitglieder eigentlich gesetzlich verpflichtet, sich weiterzubilden?

Dr. Jan Dörrwächter: Das steht zwar so nicht ausdrücklich im Gesetz. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss aber jedes Aufsichtsratsmitglied über die für die Arbeit in einem Aufsichtsrat erforderlichen Mindestkenntnisse und -fähigkeiten verfügen oder sich zumindest aneignen. Das beinhaltet richtigerweise auch eine kontinuierliche Weiterbildung, um mit den Entwicklungen der rechtlichen wie tatsächlichen Rahmenbedingungen sowie den steigenden Anforderungen an die Aufsichtsratsarbeit mithalten zu können.

Sehen Sie eine spezielle bzw. beonders hohe Nachfrage an Aus- und Weiterbildungsangeboten für weibliche Aufsichtsräte?

Dr. Viktoria Kickinger: Wir registrieren deutlich mehr Frauen als jemals zuvor auf Directors Academy. Aber was Henne und was Ei ist, vermag ich nicht zu sagen. Klar ist, virtuell vermittelte Information erweist sich als kosten- und zeiteffizienter und auch wesentlich individueller konsumierbar. Das kommt Frauen durchaus entgegen. Auch haben wir insbesondere während der Corona-Phase unserer Lehrangebot in Menge, Qualität und Aktualität ausgebaut und sind somit auch für viele Frauen unverzichtbar geworden.

Wie blicken Sie generell auf die Präsenz von Frauen in Aufsichtsräten von börsennotierten Unternehmen?

Dr. Viktoria Kickinger: Mit der in den letzten Jahren stark intensivierten Forderung nach mehr Frauen in Aufsichtsräten wurden die Besetzung von Kontrollgremien zu einem breiter diskutierten gesellschaftlichen Thema. Man wusste zwar nicht genau, was Aufsichtsräte so machen, aber sie waren übewiegend männlich, mächtig und unsichtbar – und das galt es, zu ändern. Aufsichtsrat wurde plötzlich ein politisches Ziel, ein Frauenziel.

Damit ist es nun dank Quote vorbei?

Dr. Jan Dörrwächter: Bei börsennotierten Aktiengesellschaften, die der paritätischen Mitbestimmung unterliegen, sieht das Aktiengesetzt nunmehr vor, dass der Aufsichtsrat jeweils zu mindestens 30 Prozent aus Frauen und Männern bestehen muss. Diese Vorgabe hat für die betroffenen Unternehmen einen zum Teil nicht unerheblichen Veränderungsdruck erzeugt.

Und was passiert, wenn diese Vorgabe nicht eingehalten wird?

Dr. Jan Dörrwächter: Wenn ein Aufsichtsratssitz der Kapitalseite unter Verstoß gegen die Geschlechterquote besetzt wird, ist die entsprechende Wahl durch die Hauptversammlung nichtig.

Dr. Viktoria Kickinger: … und dann greift die Sanktion des „leeren Stuhls“.

Stehen Aus- und Weiterbildungsangebote wie von Directors Academy eigentlich im Wettbewerb zur Tätigkeit von Beratern?

Dr. Jan Dörrwächter: Als hkp/// group können und wollen wir keine Curricula mit Lehrangeboten für Aufsichtsräte aufbauen, geschweige denn aktuell halten. Wir evaluieren Aufsichtsräte auf ihre Effizienz und unterstützen bei der Erarbeitung von Kompetenzprofilen. Erkennen wir Defizite oder Optimierungspotenzial ist der Verweis an Weiterbildungsangebote wie von Directors Academy ein naheliegender und sehr sinnvoller Schritt.

Dr. Viktoria Kickinger: Die Wettbewerbssituation erweist sich als hoch unterschiedlich. Gerade Einzelkämpfer entdeckten Aufsichtsräte als interessantes Kunden-Cluster und stellen Weiterbildung oft sehr günstig, nicht selten auch kostenlos zur Verfügung. Das erzeugt Kundenbindung, ist aber kein systematischer Ansatz der Aufsichtsräte nachhaltig in ihrem Informationsbedarf unterstützt.

Frau Dr. Kickinger, Herr Dr. Dörrwächter, vielen Dank für das Gespräch!

Autor Dr. Jan Dörrwächter

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