Geschäftsrelevante Erfahrungen von Individuen spielen im derzeitigen Talent Management, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle. Stattdessen blicken HR-Experten und Manager überwiegend auf individuelles Verhalten, das häufig in Kompetenzmodellen abgebildet ist. Auch bei Besetzungsentscheidungen sucht man vergeblich nach geschäftsrelevanten Erfahrungen. Der vorliegende Spot On diskutiert diesen „weißen Fleck“ im Talent Management und zeigt auf, welche Chancen sich bieten, wenn Unternehmen geschäftsrelevante Erfahrungen als sinnvolle Ergänzung zu klassischen Elementen des Talent Managements einsetzen. Anhand von ausgewählten Beispielen wird gezeigt, wie diese Erfahrungen in der Praxis eingesetzt werden können.
Seit einigen Jahren steht die Überarbeitung des Performance und Talent Managements ganz oben auf der HR-Agenda. Dieses ungebrochene Interesse hat sich nicht zuletzt dadurch potenziert, dass sich eine Reihe von Global Playern in unterschiedlichen Veröffentlichungen über ihre neuen Herangehensweisen an diese erfolgskritischen Prozesse geäußert haben. Seither steht der traditionelle Performance-Management-Ansatz in der Kritik, er sei zu starr, zu aufwendig und trage zu wenig zur organisationalen Leistungssteigerung bei.
Demzufolge setzen Unternehmen an den klassischen Elementen des Performance und Talent Managements an und entwickeln innovative Ansätze, um den oben genannten Kritikpunkten zu begegnen. So haben Unternehmen erkannt, dass es bei individuellen Zielen („Was“) im Unterschied zu Zielen, die an den Kapitalmarkt kommuniziert werden, nicht ausreicht, diese zu definieren und zwölf Monate später zu bewerten. Denn üblicherweise überdauern individuelle Ziele in einer zunehmend dynamischeren Umwelt kein ganzes Jahr.
Vor diesem Hintergrund nutzen Unternehmen wie Google, Oracle, Intel oder LinkedIn sogenannte Objectives and Key Results (OKRs) – eine Methode bei der quartalsweise geprüft wird, ob die gesetzten Ziele angepasst werden müssen. In Ergänzung zum „Was“ der Leistung bewerten Unternehmen im Rahmen der Leistungsbewertung nach wie vor auch das „Wie“ der Leistung. Um dieses messbar zu machen, wurden bislang häufig komplexe Kompetenzmodelle zugrunde gelegt, die nun zunehmend durch einfachere, business-orientiertere Modelle abgelöst werden.
Neben der Überarbeitung der Performance-Elemente steht auch die häufig „verschulte“ Potenzialbewertung im Fokus der Innovation-Bestrebungen. Um die Potenzialbewertung zu vereinfachen, setzen Unternehmen zunehmend auf eine Bewertung entlang von Leitfragen und verzichten auf umfassende Definitionen.
Doch die Überarbeitung der Prozesse des Talent Managements (z. B. Performance Management) sollte nicht zum Selbstzweck werden, sondern immer dem ultimativen Ziel des Talent Managements – der Besetzung von Stellen mit den richtigen Personen zur richtigen Zeit – dienen. Denn bedingt durch den demographischen Wandel, den War for Talents und die zunehmende Digitalisierung steht gerade der Besetzungsprozess als Königsdisziplin des Talent Managements vor neuen Herausforderungen: Die Anzahl geeigneter Bewerber1 wird immer knapper, während sich mit den eingesetzten Bewertungskriterien nicht mehr die richtigen Bewerber identifizieren lassen.
Und so drängt sich eine fundamentale Frage auf: Reicht es für einen erfolgreichen Besetzungsprozess noch aus, Tätigkeitsinhalte, Leistungsbeurteilung anhand von „Was“ und „Wie“ sowie Potenzial zu analysieren? Oder müssten in Zeiten vielfältiger, individueller Lernangebote wie MOOCs2, POOCs3 & Co., deren Lernerfolge sich nicht unbedingt in formalen Qualifikationen oder der aktuellen Leistung spiegeln, nicht eigentlich geschäftsrelevante Erfahrungen im Zentrum der Analysen stehen (siehe Abbildung 1)?
Abb. 1: Geschäftsrelevante Erfahrungen ergänzen die klassischen Kriterien im Besetzungsprozess
Geschäftsrelevante Erfahrungen – Der weiße Fleck im Talent Management
Folgt man der These, dass das ultimative Ziel des Talent Managements die Besetzung von Stellen mit den richtigen Personen zur richtigen Zeit ist, dann ist der Besetzungsprozess die Königsdisziplin des Talent Managements und neben der Nachfolgeplanung einer der wenigen HR-Prozesse, bei dem Person und Funktion zusammenkommen.
Welche Informationen benötigt man aber für die richtige Besetzung? Auf der Funktionsseite stehen die Tätigkeitsinhalte an oberster Stelle der besetzungsrelevanten Informationen. Um diese zu dokumentieren, werden in der Regel Stellenbeschreibungen genutzt, die jedoch, kaum geschrieben, schon wieder veraltet und somit nur bedingt von Nutzen sind. Daher wird zunehmend auch analysiert, in welchem Reifegrad (Start-Up, Proven Product etc.) oder Business Cycle (Growth, Turnaround etc.) sich eine Funktion befindet. Doch ebenso wie die Tätigkeitsinhalte kann sich der Business Cycle über die Zeit ändern. Agierte beispielsweise ein CFO vor einigen Jahren noch in einem stark wachsenden Marktumfeld, kann es sein, dass er oder sie das Unternehmen morgen durch eine Rezession steuern muss.
Auf der Personenseite – also der Kandidatenseite – werden in der Regel Informationen des Performance Managements für die Besetzung verwendet: Leistung gemessen anhand von „Was“ und „Wie“ sowie Potenzial.
Doch für die richtige Besetzung von Positionen fehlt sowohl auf der Funktions- als auch auf der Kandidatenseite eine ganz entscheidende Information: die geschäftsrelevante Erfahrung. Da für den Begriff Erfahrung nicht die eine Definition existiert (ausgewählte Definitionen siehe Abbildung 2) soll diese hier als erfolgreich absolvierte Lernmöglichkeiten verstanden sein. Somit haben geschäftsrelevante Erfahrungen gegenüber Kompetenzen, die beschreiben, was erlernt wurde, einen eindeutigen Vorteil: Sie erlauben eine umfassendere, situativere Beschreibung und sind somit in der Praxis besser anwendbar.
Erfahrungen sind ... |
... kognitive Strukturen, die die Handhabung neuer Informationen sowie die Ableitung von Schlussfolgerungen erleichtern. ... die Entwicklung erfolgreicher Routinen, Gewohnheiten5 oder stark automatisierten Verhaltens. ... der Erwerb deklarativen Wissens, d. h. Wissen über Sachverhalte (z. B. Fakten). ... erfolgreich absolvierte Lernmöglichkeiten5, sodass sich Personen mit gleicher Erfahrung hinsichtlich des tatsächlich Gelernten unterscheiden. |
Abb. 2: Übersicht über ausgewählte Definitionen von Erfahrung
Anwendung geschäftsrelevanter Erfahrungen – Leadership Types
Eine Möglichkeit, geschäftsrelevante Erfahrungen in der Praxis anzuwenden, stellen sogenannte Leadership Types dar. Hierbei handelt es sich um Kategorien, die die entsprechenden Erfahrungen pragmatisch und intuitiv verständlich beschreiben.
Um dies zu erreichen, werden in der Regel nur wenige Leadership Types beschrieben. Außerdem wird auf geschäftsrelevante Erfahrungen fokussiert. In einem globalen Industriekonzern wurden die Leadership Types, das heißt Wachstum, Optimierung, Restrukturierung oder Fachwissen, beispielsweise dazu verwendet, zu beschreiben, welche Erfahrungen für eine vakante CEO-Position (z. B. auf Länderebene) erforderlich sind und welche Person entsprechende Erfahrungen vorweisen kann (siehe Abbildung 3).
Abb. 3: Beispiel zur Anwendung geschäftsrelevanter Erfahrungen durch Leadership Types
Leadership Types sind jedoch keineswegs nur auf (Top) Führungskräfte anwendbar oder auf die Beschreibung des Business Cycles begrenzt. Sie können auch auf andere Zielgruppen angewendet werden. Bei einem anderen Unternehmen wurden die Leadership Types beispielsweise für die Beschreibung von geschäftsrelevanten Erfahrungen von Experten (d. h. Erfinder, Stratege, Umsetzer oder Netzwerker) verwendet.
Durch diese breite Anwendbarkeit und die pragmatischen, business-orientierten und intuitiv verständlichen Beschreibungen sind Leadership Types gerade bei Führungskräften beliebt.
Und auch darüber hinaus punkten Leadership Types, da sie sowohl auf die Funktion als auch auf die Person anwendbar sind und Informationen liefern, die sich aus anderen personenbezogenen Daten (z. B. Performance Management) nicht ergeben. Mit Hilfe von Leadership Types kann also auf der Funktionsseite ermittelt werden, welche geschäftsrelevanten Erfahrungen für eine vakante Position erforderlich sind. Auf der Personenseite kann wiederum geprüft werden, welcher Kandidat die entsprechenden Anforderungen erfüllt.
Ein Match zwischen den beschriebenen Anforderungen der Funktion und den geschäftsrelevanten Erfahrungen der Personen erlaubt schließlich auf pragmatische Art und Weise die Identifikation des am besten geeigneten Kandidaten (siehe Abbildung 4).
Abb. 4: Beispiel zum Match der Funktionsanforderungen und der Eignung der Kandidaten mittels Leadership Types
Neben dem Vergleich der Kandidaten in Bezug auf eine vakante Position, ermöglichen Leadership Types auch die Portfolioüberprüfung eines Teams. Über Leadership Types lässt sich somit identifizieren, welche Team-Mitglieder über welche geschäftsrelevanten Erfahrungen verfügen und ob die derzeit vorhandenen Erfahrungen das Team aktuell und auch zukünftig erfolgreich machen.
Als Follow-Up der Portfolioüberprüfung kann abgeleitet werden, welche geschäftsrelevanten Erfahrungen von welchen Team-Mitgliedern erworben werden sollten, um das Team erfolgreicher zu machen. Außerdem erlaubt die Portfolioüberprüfung im Falle einer Vakanz innerhalb des Teams eine Beschreibung der vakanten Funktion entlang der Leadership Types und erleichtert somit wieder die Suche nach einem geeigneten Kandidaten, der das Erfahrungsportfolio des Teams bestmöglich ergänzt.
Um den Personen im Anschluss an die Portfolioüberprüfung oder den Auswahlprozess für eine vakante Funktion nicht nur zurückzumelden, welche geschäftsrelevanten Erfahrungen erworben werden sollten, kann ein Kontext geschaffen werden, der Orientierung bietet, wie diese Erfahrungen erworben werden können.
Identifikation von geschäftsrelevanten Erfahrungen – Der Prozess
Um von den Vorteilen geschäftsrelevanter Erfahrungen in der Praxis profitieren zu können, müssen diese erst einmal für den definierten Anwendungsfall identifiziert werden. Dieser Entwicklungsprozess erfolgt typischerweise in zwei Schritten: Erstens Datensammlung und zweitens Validierung der identifizierten Erfahrungen (siehe Abbildung 5).
Abb. 5: Prozess zur Identifikation der geschäftsrelevanten Erfahrungen
Im ersten Schritt wird mit Hilfe von Interviews der Input von relevanten Stakeholdern wie Linien-Managern, Vertretern der Strategieabteilung, HR Business Partner etc. zu den aktuellen geschäftlichen Herausforderungen eingeholt. Anschließend werden die geschäftsrelevanten Erfahrungen vom Projektteam abgeleitet.
Im zweiten Schritt wird dieser erste Entwurf mit den betreffenden Stakeholdern validiert. Im Nachgang passt das Projektteam diesen auf Basis der Empfehlungen von Business und HR an.
Je nach Anwendungsfall kann es zusätzlich hilfreich sein, die identifizierten Erfahrungen zu bündeln. Dazu empfiehlt es sich, eine Architektur für die Klassifizierung zugrunde zu legen. Neben der Möglichkeit, eine solche Architektur selbst zu entwickeln, können auch wissenschaftlich entwickelte Modelle eingesetzt werden, so zum Beispiel das in 2014 veröffentlichte Framework10 von McCauley, DeRue, Yost, und Taylor. Es basiert auf vier unterschiedlichen Kategorien, mit deren Hilfe die relevanten Erfahrungen beschrieben werden können (siehe Abbildung 6).
Abb. 6: Architektur zur Klassifizierung von geschäftsrelevanten Erfahrungen basierend auf McCauley et al. (2014)
Bedeutung geschäftsrelevanter Erfahrungen – Einsatz im Talent-Management-Prozess
Ist das Set der geschäftsrelevanten Erfahrungen erst einmal definiert, kann es die Besetzungsentscheidung deutlich verbessern und darüber hinaus zum Gesamterfolg des Unternehmens beitragen. Denn sein Einsatz ist nicht nur auf den Besetzungsprozess begrenzt. Gerade vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen können geschäftsrelevante Erfahrungen auch im Rahmen zahlreicher weiterer Talent-Management-Prozesse von Vorteil sein (siehe Abbildung 7) und somit dem ultimativen Ziel des Talent Managements dienen. Um diese Anwendungsvielfalt im Talent Management zu verdeutlichen, werden im Folgenden drei besonders vielversprechende Möglichkeiten vorgestellt.
Abb. 7: Übersicht über Anwendungsmöglichkeiten von geschäftsrelevanten Erfahrungen
Die erste besonders vielversprechende und gleichzeitig hoch aktuelle Anwendungsmöglichkeit stellt der Einsatz von geschäftsrelevanten Erfahrungen im Rahmen der Rekrutierung dar. So werden zum Beispiel in Zeiten der Digitalisierung gerade Software-Ingenieure gesucht. Anders als früher verfügen die relevanten Kandidaten jedoch häufig nicht über einen durchgängigen Lebenslauf. Damit wird es zunehmend schwieriger, mit typischen Suchkriterien wie Studienabschluss, weiteren Qualifikationen oder Zeugnissen die richtigen Kandidaten zu identifizieren. Hier ermöglicht die konkrete Berücksichtigung geschäftsrelevanter Erfahrungen, die Eignung der potenziellen Kandidaten auf Basis von Kriterien wie implementierten Prozessen, geleiteten Projekten, Nebentätigkeiten während des Studiums etc. zu ermitteln.
Eine zweite besonders vielversprechende Anwendungsmöglichkeit ergibt sich im Rahmen von Entwicklungsprogrammen. In Ergänzung zu klassischen Elementen wie Leistungsbeurteilung anhand von „Was“ und „Wie“ sowie Potenzial komplettieren geschäftsrelevante Erfahrungen das Bild über die Person und zeigen auf praxisnahe Art und Weise, welche Stärken und Entwicklungsbedarfe bestehen. Dadurch wird die Ableitung von Entwicklungsmaßnahmen erleichtert und die Chance, die richtigen Maßnahmen zu identifizieren, erhöht.
Gleiches gilt für die Nachfolgeplanung. Hier werden wie im Besetzungsprozess auf der Funktionsseite bislang häufig nur die Tätigkeitsinhalte analysiert, auf Personenseite die Leistungs- und Potenzialbeurteilung. Werden diese klassischen Elemente um die Analyse von geschäftsrelevanten Erfahrungen, zum Beispiel mit Hilfe von Leadership Types, ergänzt, resultiert ein holistisches Bild von Funktion und Person, das die Identifikation der richtigen Nachfolger deutlich verbessern kann.
Fazit
Die Relevanz geschäftsrelevanter Erfahrungen für das Talent Management wird aktuell noch unterschätzt. Nur wenige innovative Vorreiter haben diese in ihrem Nutzenpotenzial für das eigene Talent Management entdeckt. Dabei ist ihr Einsatz im Rahmen ausgewählter Talent-Management-Prozesse wie dem Besetzungsprozess, der Rekrutierung oder auch der Nachfolgeplanung vielversprechend, stellt er doch die Entscheidungen auf eine breitere Basis, macht sie praxisnäher und letztlich erfolgreicher.
Vor dem Hintergrund des steigenden Bedarfs an einfachen, praxisnahen Lösungen, die auch vom Business akzeptiert werden, ist es somit nur eine Frage der Zeit, bis sich geschäftsrelevante Erfahrungen durchsetzen und in Ergänzung zu den klassischen Elementen breite Anwendung finden.