Herr Schlichting, Herr Gierschmann, mit Ihren Beratungsangeboten zum Talent Management für den Mittelstand adressieren Sie insbesondere die größeren, in der Regel internationalen Firmen. Warum diese Fokussierung?
Carsten Schlichting: Es braucht schlichtweg eine Schwungmasse, ein gewisses Volumen an Mitarbeitern, Ebenen und Organisationseinheiten, damit bestimmte Prozesse im Talent- und Performance-Management ihre Wirkung entfalten können. Kleinere Unternehmen können diese Ansätze zwar auch nutzen, aber die Effizienz ist häufig nicht gegeben. Man muss aufpassen, nicht mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. 
 
Wie genau sieht denn diese ‚Schwungmasse‘ aus?
Frank Gierschmann: Nun, wir sprechen über Unternehmen ab einem Umsatz von rund einer Milliarde Euro und etwa 5.000 Mitarbeitern, von denen fast die Hälfte im Ausland tätig ist. Je nach Unternehmensgröße gibt es unterhalb der Geschäftsführung oder des Vorstands im außertariflichen Bereich meist drei bis vier Führungsebenen. 
 
Wobei auf diesen Ebenen nur ein kleiner Teil der Mitarbeiter zu finden ist, ...
Carsten Schlichting: Eine typische Mitarbeiterpyramide für diese Unternehmen zeigt deutlich, dass ab Abteilungsleiterebene aufwärts nur eine sehr begrenzte Anzahl von Stellen vorhanden ist, die etwa einem Anteil von drei Prozent der Gesamtbelegschaft entspricht.
Frank Gierschmann: Auf diese Gruppe ist meist ein zentral gesteuertes Talent Management mit Nachfolgeplanung und Entwicklungsmaßnahmen ausgerichtet. Dagegen werden Tarif- und tarifnahe Positionen meist dezentral in den Geschäftseinheiten und Standorten geplant und besetzt. 
 
Aber für die Planung des Führungskräftebedarfs ist nicht nur die Anzahl der vorhandenen Stellen von Bedeutung, sondern auch die Häufigkeit, mit der eine Stelle zu besetzen ist….
Carsten Schlichting: Der zukünftige Besetzungsbedarf lässt sich grundsätzlich in Ersatz- und Zusatzbedarf unterscheiden und entsteht durch Ruhestand, Versetzungen, Fluktuation und neugeschaffene Stellen. Besetzungen von vakanten Stellen können durch Versetzungen auf gleicher Ebene, Beförderung oder Einstellungen von außen erfolgen. 
 
Welchen Weg der Stellenbesetzung bevorzugen die Unternehmen?
Carsten Schlichting: Die meisten Unternehmen geben internen Besetzungen grundsätzlich den Vorzug. Gründe dafür liegen in einem geringeren Risiko einer Fehlbesetzung, geringeren Kosten der Einstellung, einer höheren Erfolgsrate und höherer Motivation und Bindung der Mitarbeiter.
Frank Gierschmann: … Und außerdem stellen interne Besetzungen ein starkes Signal für die Belegschaft dar, dass das Talent Management im Unternehmen funktioniert. 
 
Welches Verhältnis zwischen internen und externen Besetzungen erachten Sie als optimal?
Carsten Schlichting: Große Konzerne nennen für die Besetzung von Führungspositionen meist eine Zielrelation von internen zu externen Besetzungen von 90:10, große mittelständische Unternehmen liegen häufig eher bei 50:50. Der Rest liegt je nach spezifischer Situation des Unternehmensdazwischen dazwischen. 
 
Wie lässt sich dieser Unterschied zwischen Großunternehmen und Mittelständlern erklären?
Carsten Schlichting: Es ist vor allem die bei mittelständischen Unternehmen zur Verfügung stehende geringere Anzahl von Stellen bzw. Personen und die damit verbundene fehlende Parallelität von Bedarf und einsatzfähigen internen Kandidaten, die sich hier auswirkt. 
 
Sie meinen, wenn eine Stelle zu besetzen ist, steht gerade kein Kandidat zur Verfügung?
Carsten Schlichting: … oder wenn ein Mitarbeiter reif ist für den nächsten Schritt, gibt es gerade keine entsprechende Stelle.
Frank Gierschmann: Zudem spielen die Unternehmensstrategie sowie Veränderungs- und Innovationsanforderungen eine große Rolle: Bei produzierenden Unternehmen sind in den oberen Führungsebenen weniger externe Besetzungen gewünscht, wohingegen dies in anderen Industrien häufiger der Fall ist: So werden in IT-Unternehmen zum Bewältigen neu auftretender Herausforderungen wie neuer Technologien, Vertriebswege etc. teilweise komplette Führungsmannschaften extern eingekauft. 
 
Aber wenn der Kreis der Führungskräfte so klein ist, müsste sich der Bedarf an Kandidaten relativ gut abschätzen lassen? Die Altersstruktur ist bekannt, die Fluktuation in der Regel gering.
Frank Gierschmann: Lassen Sie mich mit einer Beispielrechnung antworten: In einem Unternehmen sind 100 Stellen dem Oberen Führungskreis zuzuordnen. Typischerweise sind diese mit Personen im Alter zwischen 40 und 60 Jahren besetzt, das Durchschnittsalter liegt bei 50 Jahren. Im Schnitt ergeben sich bei einer gleichen Verteilung fünf Ruhestandsfälle pro Jahr.
Carsten Schlichting: Die Fluktuationsrate im Mittelstand liegt bei Oberen Führungskräften üblicherweise unter zwei Prozent. Damit sind etwa sechs bis sieben Stellen pro Jahr neu zu besetzen, um Altersaustritte und Fluktuation auszugleichen. 
 
Schwieriger scheint es da, beurteilen zu können, wie hoch der zusätzliche Bedarf durch internes Wachstum oder Reorganisationen ist... 
Carsten Schlichting: Externes Wachstum, beispielsweise über Akquisitionen oder Firmenzusammenschlüsse, löst je nach Strategie unterschiedliche Bedarfe aus, die allerdings wegen der Integrationsaufgaben und Fluktuation bzw. Trennung von übernommenen Führungskräften häufig unterschätzt werden. 
 
Die skizzierte Nachfrage nach Führungskräften trifft auf ein unternehmensspezifisches Angebot von Talenten. Wie lässt sich hier die notwendige Transparenz herstellen?
Carsten Schlichting: Das Angebot an Talenten steht meist in einer bestimmten Relation zu der Anzahl der Mitarbeiter auf einer Ebene. Viele Unternehmen berichten einen Erfahrungswert von etwa zehn Prozent der Mitarbeiter, die das Potenzial für eine Aufgabe als Führungskraft auf der nächsthöheren Ebene haben. 
 
Wie wird diese Identifizierung von Potenzial sichergestellt?
Frank Gierschmann: Personen mit Potenzial für Führungsaufgaben werden in fast allen Unternehmen durch spezifische Verfahren und Prozesse identifiziert. Dabei wird Potenzial nicht nur an den bisher gezeigten Leistungen festgemacht. Würde nur diese Dimension in die Beurteilung einfließen, blieben viele Talente unentdeckt oder die falschen Mitarbeiter würden als Potenziale eingestuft.
Carsten Schlichting: Die Erfahrung zeigt: In neun von zehn Fällen sind Personen mit überdurchschnittlichem Potenzial – so genannte High Potentials – gleichzeitig auch High Performer in der aktuellen Aufgabe. Allerdings haben nicht alle Höchstleister automatisch ein hohes Karrierepotenzial. Schließlich gibt es vielversprechende Talente, die aber noch nicht zur Entfaltung gekommen sind. 
 
Diese Gruppen sind vermutlich nicht leicht auseinander zu halten?
Frank Gierschmann: Ja, daher haben sich Verfahren zur Potenzialdiagnose etabliert, die unter anderem auf Persönlichkeitsmerkmalen wie zum Beispiel Neugier, Denk- und Lernvermögen, Überzeugungskraft und Energie basieren. Auch die Wertorientierung, ob das Verhalten im Einklang mit den Unternehmenswerten steht, kann berücksichtigt werden. Die identifizierten Talente kommen in einen Talent-Pool, der als Fundgrube für Stellenbesetzungen auf der nächsthöheren Ebene für die Besetzungen in den nächsten zwei bis vier Jahren dienen soll. 
 
Wie groß sollte denn ein Talente Pool sein?
Carsten Schlichting: Bei Stellenbesetzungen in großen Unternehmen ist meist das Ziel, aus dem Talent-Pool eine Long List von mehr als zehn und nach entsprechenden Sondierungen eine Short List von zumindest drei bis fünf aussichtsreichen Kandidaten zu erstellen. Der Abgleich von Angebot und Nachfrage an Führungskräften lässt sich auch in Form von Abdeckungsquoten erfassen. Diese stellen die Verbindung zwischen Bedarf und Potenzial dar und geben das angestrebte Verhältnis von zu besetzenden Stellen und verfügbaren internen Kandidaten an. Üblich ist eine Abdeckungsquote von 1 zu 1,5 bis maximal 2. 
 
Richtig kalkuliert sollten sich also in Summe für jede Vakanz nicht weniger als ein, aber nicht mehr als zwei Kandidaten im Talent-Pool befinden?
Frank Gierschmann: Geringere Relationen bedeuten zwangsläufig Engpässe, bei höheren kommen zu viele potentielle Kandidaten nicht zum Zug. Außerdem kommt es natürlich auch auf die passende Verteilung der Job-Familien an, denn schließlich wird man einen talentierten Controller nicht auf eine technische Werkleiterposition setzen wollen.
Carsten Schlichting: Die optimale Abdeckungsquote ist dabei auch eine Frage der Fluktuation sowohl in Branchen als auch in Ländern. So wird die Quote für Führungskräfte in China wahrscheinlich höher sein müssen, da hier typischerweise die Fluktuation höher ist und Besetzungen schwieriger zu realisieren sind als in anderen Ländern.
  
Könnte man nicht einfach als grobe Orientierung für die angemessene Größe eines Talent Pools die Anzahl der Positionen auf einer Zielebene heranziehen?
Carsten Schlichting: Es kommt auf die Definition des Talent-Pools an: wenn er alle  Kandidaten enthält, die mit einer längerfristigen Entwicklungsperspektive innerhalb der nächsten vier Jahre eine höherwertige Stelle übernehmen können, dann muss er natürlich größer sein als wenn nur Mitarbeiter aufgenommen werden, die sofort als Kandidaten für eine Stelle auf der nächsthöheren Ebene zur Verfügung stehen.
 
Herr Schlichting, Herr Gierschmann, herzlichen Dank für das Gespräch.
Autor Carsten Schlichting

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